Palitzsch' Interesse an diesem Werk dürfte groß gewesen sein, sollte er davon Kenntnis erhalten haben. Möglich wäre es immerhin gewesen, zeugte doch seine umfangreiche Bibliothek wissenschaftlicher Bücher von großem Wissensdrang. Wenn aber nicht, dann wäre ihm die bedeutendste Theorie über die Entstehung des Sonnensystems und der anderen Himmelskörper seiner Zeit entgangen.
Was ist an Kants Schrift so außerordentlich?
Anknüpfend an R. Descartes (1596-1650) Wirbeltheorie und an 1750 veröffentlichte Gedanken über den Bau des Alls und die Milchstraße von Th. Wright, erarbeitete Kant unter Anwendung der
Gravitationstheorie I. Newtons (1643-1727) eine Theorie über die Entwicklung der Himmelskörper, welche die bis dahin im wesentlichen unangetastet gebliebenen Auffassungen von der Unveränderlichkeit der
Himmelssphären überwand. Kant widersprach damit dem religiösen Dogma seiner Zeit, wonach der Zustand des Universums seit seiner göttlichen Erschaffung unverändert und unveränderlich sei, obwohl die Entdeckungen von Novae 1572 und 1604 und Berechnungen der Bahn des Kometen von 1577 längst erste Zweifel hatten aufkommen lassen.
Kant entwickelte den Gedanken, daß sich das Sonnensystem aus einer rotierenden Nebelmasse, die aus kleinsten im Raume verteilten Materieteilchen bestand, zu seiner uns bekannten Gestalt herausgebildet habe. Die Sonne, die Planeten mit ihren Monden, die Kometen, die Fixsterne, die Milchstraße und andere ferne Sternsysteme von der Art der Milchstraße seien aus einem chaotischen Urnebel entstanden.
Kants enorme Leistung bestand darin, als erster die Entstehung und Entwicklung der Himmelskörper als Selbstbewegung der Materie naturwissenschaftlich und unter Verzicht auf den biblischen Schöpfungsakt erklärt zu haben.
Kant schrieb in der Vorrede seines Werkes: "Ich habe, nachdem ich die Welt in das einfachste Chaos versetzt, keine andere Kräfte als die Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zur Entwicklung der großen Ordnung der Natur angewandt, zwei Kräfte, welche beide gleich gewiß, gleich einfach und zugleich gleich ursprünglich und allgemein sind. Beide sind aus der Newtonschen Weltweisheit entlehnet." 1)
Und ebenda an anderer Stelle: "Ich nehme die Materie aller Welt in einer allgemeinen Zerstreuung an und mache aus derselben ein vollkommenes Chaos. Ich sehe nach den ausgemachten Gesetzen der Attraktion den Stoff sich bilden und durch die Zurückstoßung ihre Bewegung modifizieren. Ich genieße das Vergnügen, ohne Beihilfe willkürlicher Erdichtungen unter der Veranlassung ausgemachter Bewegungsgesetze sich ein wohlgeordnetes Ganze erzeugen zu sehen, welches demjenigen Weltsystem so ähnlich siehet, das wir vor Augen haben, dass ich mich nicht entbrechen kann, es vor dasselbe zu halten." 2)
Allein die folgend nur stark gekürzt wiedergegebenen Inhaltsangaben lassen den Reichtum der Kantschen Überlegungen deutlich werden:
Erster Teil "Abriß einer allgemeinen systematischen Verfassung unter den Fixsternen, aus den Phänomenis der Milchstraße hergeleitet...", "Beschluß. Wahrscheinliche Vermutung mehrerer Planeten über dem Saturn...". Zweiter Teil , Erstes Hauptstück "Gründe vor die Lehrverfassung eines mechanischen Ursprungs der Welt...", Zweites Hauptstück "Handelt von der verschiedenen Dichtigkeit der Planeten und dem Verhältnisse ihrer Massen...", Drittes Hauptstück "Von der Exzentrität der Planetenkreise und dem Ursprunge der Kometen...", Viertes Hauptstück "Von dem Ursprunge der Monde und den Bewegungen der Planeten um die Achse...", Fünftes Hauptstück "Von dem Ursprunge des Saturnringes und der Berechnung seiner täglichen Umdrehung aus den Verhältnissen desselben...", Sechstes Hauptstück "Von dem Zodiakallichte", Siebentes Hauptstück "Von der Schöpfung im ganzen Umfange ihrer Unendlichkeit sowohl dem Raume als der Zeit nach...", "Allgemeine Theorie und Geschichte der Sonne überhaupt...", Achtes Hauptstück "Allgemeiner Beweis von der Richtigkeit einer mechanischen Lehrverfassung der Einrichtung des Weltbaues überhaupt, insonderheit von der Gewißheit der gegenwärtigen...". Dritter Teil "Enthält eine Vergleichung zwischen den Einwohnern der Gestirne..." Beschluß "Die Begebenheiten des Menschen in dem künftigen Leben." 3)
Im siebenten Hauptstück des zweiten Teiles verläßt Kant seine Untersuchungen zur Entstehung des Sonnensystems und der Fixsterne und dehnt sie auf die Unendlichkeit des Kosmos in Raum und Zeit aus. Er begründet das fortwährende Werden und Vergehen im Universum, wobei dieses selbst unzerstörbar unendlich existiert. Kant kommt zu dem Schluß, daß sich, "wenn ein Weltsystem in der langen Folge seiner Dauer alle Mannigfaltigkeit erschöpfet" 4) habe, die Zerstörung ausbreite, "um alle Welt, welche ihre Periode zurückgeleget hat, durch einen allmählichen Verfall der Bewegungen zuletzt in einem einzigen Chaos zu begraben". 5) Und er fragt: "Kann man nicht glauben, die Natur, welche vermögend war, sich aus dem Chaos in eine regelmäßige Ordnung und in ein geschicktes System zu setzen, sei ebenfalls imstande, aus dem neuen Chaos, darin sie die Verminderung ihrer Bewegungen versenket hat, sich wiederum ebenso leicht herzustellen und die erste Verbindung zu erneuern?" 6) Die Natur bedarf also für ihre Entwicklung keines göttlichen Anstoßes von außen. Diese Meinung vertrat noch konsequenter P.S. de Laplace (1749-1827) in seiner 1796 erschienenen Arbeit "Exposition du Système du Monde". Laplace nahm für sein ebenfalls auf den Newtonschen Gesetzen fußendes Weltmodell eine anfängliche Ursonne an, die aufgrund ihrer schnellen Umdrehung Materie herausschleuderte, die sich in ihrer Äquatorebene zu den Planeten herausbildete.
Trotz oder gerade wegen der Kühnheit ihrer Theorien fanden Kants Einführung des Entwicklungsgedankens in die Theorie des Himmels und die Untersuchungen von Laplace bei den zeitgenössischen Gelehrten kein positives Echo. Sie waren ihrer Zeit weit voraus. Fragen nach dem Wesen, dem Aufbau und der Entwicklung des Weltalls waren einstweilen noch Randprobleme der zeitgenössischen Astronomie.
Sollte Palitzsch Kants "Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels" gekannt haben, er hätte sie wahrscheinlich ebenso bewertet wie die Fachastronomen.
Nach Kant gab es nur geringe Fortschritte bei der Erforschung von Entwicklungsvorgängen im Weltall, da es in den Naturwissenschaften, einschließlich der Astronomie, bis weit in das 19. Jahrhundert eine große Ablehnung von Überlegungen gab, die über das Beobachtbare hinausgingen und mit der berechtigten Ablehnung der spekulativen Naturphilosophie zugleich eine positivistische Denkweise vorherrschte, welche das theoretische Denken nur gering schätzte. Und da über die Sonne, den nächsten aller Fixsterne, noch fast nichts bekannt, die Entfernungen anderer Sterne und das Wesen der verschiedenen Nebel rätselhaft waren, "gab es wenig konkrete Ansatzpunkte für die erfolgreiche Lösung der von Kant und Herschel aufgeworfenen Fragen." 7)
Der Astrophysiker K. F. Zöllner (1834-1882) "war neben Hermann von Helmholtz (1821-1894) der einzige deutsche Naturforscher, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts die kosmogonisch-kosmologischen Ideen Kants in ihrer historischen Bedeutung erkannte und nachträglich würdigte." 8)
Friedrich Engels schrieb 1875/1876 in der Einleitung zur "Dialektik der Natur", "in Kants Entdeckung lag der Springpunkt alles ferneren Fortschritts". 9)
Was bleibt uns von Kants Himmelstheorie?
Sie wird in der Entwicklung der Kosmogonie, ebenso wie die Auffassungen von Laplace, auf dem modernen Wissensstand von den Astronomen fortgesetzt. Vertreter der Nebularhypothese (Kontraktionshypothese) von Laplace sind Lord Kelvin of Largs (W.Thomson), W.G.Fessenkow (1951);
Vertreter der Kant'schen Theorie: T.C. Chamberlin; F. R.Moulton; F. C. Weizsäcker (1944) versuchte Kants Ideen mit der Thermodynamik und der statistischen Mechanik zu verbinden; Schmidt (1951). Keine der beiden Basishypothesen als auch deren moderne Varianten ist in der Lage, widerspruchslos alle Fakten zu deuten. Eine Synthese der verschiedenen Hypothesen versuchte der schwedische Astrophysiker H. Alfvén (1942/1946). Obwohl kosmogonische Studien in großer Zahl von Forschergruppen erarbeitet werden, ist es bisher nicht zu einem befriedigenden Modell für den kosmogonischen Vorgang gekommen, der unser heute beobachtbares Sonnensystem zur Folge hatte. Das Beobachtungsmaterial ist noch nicht hinreichend, aber es wird neue Beobachtungsdaten der Infrarot- und Radioastronomie und von Planetensonden auszuwerten geben. 10) Als die gegenwärtig fundierteste Theorie gilt die des Amerikaners Kuiper. 11)
I. Kants "Naturgeschichte und Theorie des Himmels" ist mit ihrem philosophischen und naturwissenschaftlichen Gedankenreichtum, der hier nur geringfügig angedeutet werden konnte, sowie ihrer Sprache ein faszinierendes Zeugnis der Wissenschaftsgeschichte.
Das Werk widerspiegelt nicht zuletzt, durch eine Reihe einzelner Aussagen, und hier kommen wir wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück, den Erkenntnisstand der Astronomie zu Palitzschs Zeiten. Es zu lesen ist ein intellektuelles Vergnügen.
© 2001 Dr. Dietmar
Scholz
Dieser
Artikel erschien im Informationsblatt der Palitzsch-Gesellschaft Jg.
2 (2001) Nr. 6
Die
Zitate sind folgenden Schriften entnommen: 1) Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Verlag Philipp Reclam Jun., Leipzig 1954, S.36;
2) Ebenda, S. 23f; 3) Ebenda, S. 39-44; 4) und 5) Ebenda, S. 155;
6) Ebenda, S. 156;
7) und 8) Dieter B. Herrmann, Entdecker des Himmels, Urania-Verlag Leipzig, Jena, Berlin, S.153;
9) Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Dietz Verlag, Berlin 1975, S. 316;
10) Siehe: Dieter B. Herrmann, Geschichte der modernen Astronomie, VEB Verlag der Wissenschaften,
- Berlin 1984, S. 75f; 11) Siehe Brockhaus ABC der Astronomie, 2. Aufl., VEB F. A. Brockhaus Verlag Leipzig, 1961, S.161
nach
oben |